VG Berlin: Vollständiger Impfschutz mit nur einer Johnson&Johnson-Impfung

Das Verwaltungsgericht Berlin hat mit viel beachtetem Beschluss vom om 18.02.2022 (VG 14 L 15/22) entschieden, dass der volle Impfstatus bereits mit einer Impfung des Herstellers Johnson & Johnson erreicht wird.

 

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Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Berlin im Wortlaut:

 

Es wird im Wege einstweiliger Anordnung festgestellt, dass § 2 Nr. 3 der Verordnung zur Regelung von Erleichterungen und Ausnahmen von Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 (COVID-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung - SchAusnahmV) vom 8. Mai 2021 (BAnz AT 08.05.2021 V1), zuletzt geändert durch Verordnung vom 14. Januar 2022 (BAnz AT 14.01.2022 V1), auf die Antragstellerin vorläufig bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache keine Anwendung findet. Auf die Antragstellerin findet stattdessen vorläufig bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache § 2 Nr. 3 SchAusnahmV in der bis zum 14. Januar 2022 geltenden Fassung der vorletzten Änderung durch Verordnung vom 10. Dezember 2021 (BGBl. I S. 5175) unter Fortgeltung der bis zum 14. Januar 2022 auf www.pei.de/impfstoffe/covid-19 veröffentlichten Anzahl von Impfstoffdosen Anwendung, wonach für eine vollständige Impfung mit dem Impfstoff COVID-19 Vaccine Janssen eine Impfdosis für eine vollständige Schutzimpfung erforderlich ist.

 

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

 

Der Wert des Verfahrensgegenstands wird auf 5.000,- € festgesetzt.

 

Gründe:

 

1

Der nach den §§ 88, 122 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) sachdienlich dahin auszulegende Antrag der Antragstellerin, im Wege der einstweiligen Anordnung festzustellen, dass § 2 Nr. 3 SchAusnahmV auf die Antragstellerin vorläufig bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache keine Anwendung findet, ist zulässig (I.) und begründet (II.).

 

I.

 

2

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Regelungsanordnung ist nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO statthaft. In der Hauptsache kann die Antragstellerin hier ein Feststellungsbegehren nach § 43 Abs. 1 VwGO verfolgen (vgl. zum fachgerichtlichen Rechtsschutz gegen Bundesverordnungen: BVerfG, Beschluss vom 17. Januar 2006 - 1 BvR 541/02 -, juris Rn. 41), so dass sie im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes grundsätzlich einen korrespondierenden Feststellungsantrag stellen kann (vgl. BVerfG, Beschluss vom 31. März 2020 - 1 BvR 712/20 -, juris Rn. 15 m.w.N.).

 

3

Zwischen der Antragstellerin als Normadressatin und der Antragsgegnerin als Normgeberin besteht hier ein negativ feststellungsfähiges Rechtsverhältnis im Sinne des § 43 Abs. 1 VwGO, nämlich eine sich aus einem konkreten Sachverhalt aufgrund einer öffentlich-rechtlichen Norm ergebende rechtliche Beziehung für das Verhältnis von (natürlichen oder juristischen) Personen (vgl. Pietzcker, in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, 41. Erg.-Lfg. Juli 2021, § 43 VwGO Rn. 5 ff. m.w.N.).

 

4

Unmittelbar zum Normgeber ist ein Rechtsverhältnis dabei nur ausnahmsweise, aber insbesondere dann anzunehmen, wenn mangels administrativen Vollzugs einer Norm kein konkretes Rechtsverhältnis zwischen Normanwender und Normadressat begründet wird, die Rechtsbeeinträchtigung bereits unmittelbar durch die Norm bewirkt wird und effektiver Rechtsschutz nur im Rechtsverhältnis zwischen Normgeber und Normadressat gewährt werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 28. Januar 2010 - 8 C 19/09 -, juris Rn. 28; BVerfG, Beschluss vom 17. Januar 2006, a.a.O.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16. April 2021 - OVG 1 S 43/21 -, juris Rn. 10).

 

5

Ein Rechtsverhältnis im obigen Sinne liegt hier vor. § 2 Nr. 2 und 3 SchAusnahmV legt bundesweit einheitlich und ohne Abweichungsbefugnis (vgl. § 7 Satz 1 SchAusnahmV; hierzu VG Berlin, Beschluss vom 20. September 2021 - 14 L 512/21 -, juris) fest, ob eine Person im Rechtssinne als „geimpfte Person“ gilt, und bestimmt damit, ob die Person in den Genuss der hieran anknüpfenden Erleichterungen und Ausnahmen von bundes- und landesrechtlichen infektionsrechtlichen Schutzmaßnahmen für diesen Personenkreis kommt oder nicht.

 

6

Dieses Rechtsverhältnis besteht unmittelbar zum Normgeber, da § 2 Nr. 3 SchAusnahmV keines erkennbaren „Vollzugsakts“ bedarf und andernfalls effektiver Rechtsschutz deswegen nicht vollumfassend gewährleistet werden könnte. Dies erscheint hinsichtlich der unmittelbar an § 2 Nr. 2 und 3 SchAusnahmV anknüpfenden bundesweit einheitlichen Schutzmaßnahmen nach § 28b Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) offensichtlich, gilt aufgrund der unmittelbaren Auswirkung der Vorschrift auf infektionsschutzrechtliche Maßnahmen der Landesregierungen in Form von Erleichterungen und Ausnahmen aber auch, soweit § 2 Nr. 2 und 3 SchAusnahmV erst in Verbindung mit Landesrecht Wirkung erlangt.

 

7

Dabei ist der Antrag hier nur deshalb nicht als Normerlassantrag auszulegen, da die begehrte Rechtsposition vorliegend bereits mit Feststellung der individuellen Unanwendbarkeit von § 2 Nr. 3 SchAusnahmV in Verbindung mit der nach Änderung der Verordnung auf www.pei.de/impfstoffe/covid-19 (bzw. auf der nach automatischer Umleitung erreichten Webseite: https://www.pei.de/DE/newsroom/dossier/corona-virus/coronavirus-inhalt.html) veröffentlichten „Anforderung für den vollständigen Impfschutz“ erreicht werden kann. Hierdurch leben nämlich die abgeänderten Normen wieder auf, es sei denn - wofür hier keine Anhaltspunkte bestehen - der Wille des Verordnungsgebers geht eindeutig dahin, dass die früheren Normen „auf jeden Fall“ aufgehoben werden sollten (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteile vom 24. Oktober 2013 - 1 S 347/13 -, juris Rn. 45 f., und vom 18. Dezember 1992 - 5 S 173/91 -, juris Rn. 30 mit Verweis auf BVerwG, Urteil vom 10. August 1990 - 4 C 3.90 -, juris; so im Ergebnis auch VG Osnabrück, Beschluss vom 04. Februar 2022 - 3 B 4/22 -, juris Rn. 33). Dabei verkennt das Gericht nicht, dass auch die Vorgängervorschrift hinsichtlich der Anzahl von Impfstoffdosen auf die Webseite des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) verwies. Die Vorgängervorschrift ist jedoch aller Voraussicht nach so auszulegen, dass auf der Internetseite des PEI lediglich die aktuell von der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) zugelassenen Impfstoffe und die nach Maßgabe der erteilten Zulassung erforderliche Anzahl von Einzelimpfungen bzw. Möglichkeiten von Kreuzimpfungen zu veröffentlichen waren und nicht - wie es jetzt der Fall ist - dem PEI ein eigener Entscheidungsspielraum über die notwendige Anzahl von Einzelimpfungen eingeräumt werden sollte. Dies bestätigt ein historischer Blick auf die Normgenese. In der Begründung der COVID-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung in der Fassung vom 9. Mai 2021 (vgl. BR-Drs. 347/21 S. 13) heißt es insoweit nämlich:

 

„Auf der unter Nummer 3 Buchstabe a genannten Internetseite sind Angaben darüber aufzunehmen, für welchen der in der Europäischen Union zugelassenen Impfstoffe welche Anzahl von Einzelimpfungen für das Erreichen eines vollständigen Impfschutzes erforderlich sind. Außerdem ist anzugeben, welche Impfstoffe im Rahmen von Kreuzimpfungen verwendet werden können.“

 

8

Ein gegen die im jeweiligen Bundesland geltenden Infektionsschutzmaßnahmen gerichteter Eilantrag entspräche schließlich auch nicht dem Rechtsschutzbegehren der Antragstellerin, welche sich nicht gegen die Notwendigkeit der landesrechtlichen Infektionsschutzmaßnahmen als solche, sondern lediglich gegen die bundesrechtliche (Neu-)Festlegung des Impfnachweises wendet.

 

9

Ein Rechtsverhältnis ist schließlich nach ständiger Rechtsprechung nur dann feststellungsfähig, wenn es hinreichend konkret und streitig ist und nicht lediglich die Klärung einer abstrakten Rechtsfrage erreicht werden soll (vgl. Pietzcker, a.a.O., Rn. 17 m.w.N.). Hieran bestehen vorliegend keinerlei Zweifel.

 

10

Die Antragstellerin hat auch ihre individuelle Betroffenheit hinreichend dargelegt. Sie hat glaubhaft gemacht, dass sie am 7. Oktober 2021 mit dem Impfstoff COVID-19 Vaccine Janssen geimpft wurde. Sie hat auch hinreichend dargelegt, aufgrund der Änderung des § 2 Nr. 3 SchAusnahmV nunmehr gegenwärtig bundes- und landesrechtlichen Infektionsschutzmaßnahmen zu unterliegen.

 

11

Das in der Hauptsache zu verfolgende Feststellungsbegehren ist auch nicht subsidiär (vgl. § 43 Abs. 2 VwGO), da nicht ersichtlich ist, dass die Antragstellerin anderweitig die Möglichkeit hätte, ihre Rechte durch Gestaltungs- oder Leistungsklage zu verfolgen (vgl. BVerwG, Urteil vom 28. Januar 2010 - 8 C 19/09 -, juris Rn. 40).

 

12

Schließlich fehlt der Antragstellerin auch weder das nach § 43 Abs. 1 VwGO erforderliche berechtigte Interesse an der vorläufigen Feststellung der individuellen Unverbindlichkeit der angegriffenen Norm noch die in entsprechender Anwendung des § 42 Abs. 2 VwGO erforderliche Antragsbefugnis. Die angegriffene Änderung des § 2 Nr. 3 SchAusnahmV beschneidet zuvor bestehende Erleichterungen und Ausnahmen von infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen im Bundes- und Landesrecht in zeitlicher Hinsicht, wobei eine mögliche Verfassungs- oder Rechtswidrigkeit dieser Vorschrift mit einer Verletzung jedenfalls der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Artikel 2 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) einher ginge.

 

II.

 

13

Der Antrag ist auch begründet.

 

14

Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn die begehrte Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Nach § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2, § 294 der Zivilprozessordnung (ZPO) sind dabei die tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs (Anordnungsanspruch) in gleicher Weise glaubhaft zu machen wie die Gründe, welche die Eilbedürftigkeit der gerichtlichen Entscheidung bedingen (Anordnungsgrund).

 

15

Dem Wesen und Zweck des Verfahrens nach § 123 Abs. 1 VwGO entsprechend kann das Gericht im Wege der einstweiligen Anordnung grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und nicht schon das gewähren, was Ziel eines entsprechenden Hauptsacheverfahrens wäre. Wird, wie hier, die Vorwegnahme der Hauptsache begehrt, kommt die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nur dann in Betracht, wenn ein Obsiegen im Hauptsacheverfahren mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist und andernfalls schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. u.a. OVG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 17. Oktober 2017 - OVG 3 S 84.17 - und - OVG 3 M 105.17 -, juris Rn. 2, und vom 28. April 2017 - OVG 3 S 23.17 u.a. -, juris Rn. 1; ferner: Kopp/Schenke, VwGO, 25. Aufl. 2019, § 123 Rn. 13 ff. m.w.N.).

 

16

Vorliegend hat die Antragstellerin das Bestehen eines Anordnungsanspruchs (1.) und eines Anordnungsgrunds (2.) in einer die Vorwegnahme der Hauptsache rechtfertigenden Weise glaubhaft gemacht.

 

17

1. Nach der in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung ist mit der erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sich § 2 Nr. 3 SchAusnahmV in einem etwaigen Hauptsacheverfahren als rechtswidrig erweisen wird.

 

18

a. Rechtsgrundlage des § 2 Nr. 3 SchAusnahmV ist § 28c Satz 1 IfSG. Danach wird die Bundesregierung ermächtigt, durch Rechtsverordnung für Personen, bei denen von einer Immunisierung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 auszugehen ist oder die ein negatives Ergebnis eines Tests auf eine Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 vorlegen können, Erleichterungen oder Ausnahmen von Geboten und Verboten nach dem fünften Abschnitt dieses Gesetzes oder von aufgrund der Vorschriften im fünften Abschnitt dieses Gesetzes erlassenen Geboten und Verboten zu regeln.

 

19

b. An der Verfassungsmäßigkeit der Rechtsgrundlage bestehen bei summarischer Prüfung keine durchgreifenden Bedenken, insbesondere dürfte die hierin enthaltene Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnungen mit Artikel 80 Abs. 1 Satz 2 GG und der sich aus Artikel 20 Abs. 1 und 3 GG ergebenden Wesentlichkeitsdoktrin vereinbar sein (vgl. zur Kritik: Wissenschaftliche Dienste des Bundestags, Ausarbeitung zur Verfassungsmäßigkeit der Regelung des Genesenennachweises durch Rechtsverordnung vom 28. Januar 2022, WD 3 - 3000 - 006/22, S. 4 ff.; Stellungnahme des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit zum Entwurf einer Mantelverordnung zur Änderung der COVID-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung und der Coronavirus-Einreiseverordnung vom 12. Januar 2022, abzurufen unter https://www.bfdi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Do-kumenteBfDI/Stellungnahmen/2022/StgN_Corona-Einreiseverordnung.html; vgl. zum Verhältnis von Artikel 80 Abs. 1 Satz 2 GG und der Wesentlichkeitsdoktrin, BVerfG, Urteil vom 19. September 2018 - 2 BvF 1/15 -, juris Rn. 190 ff., insb. 198 ff.). Dazu ist erforderlich, dass die Ermächtigungsgrundlage nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmt ist (vgl. ebd., Rn. 200 f. m.w.N.). Artikel 80 Abs. 1 Satz 2 GG verlangt dabei jedoch nicht, dass die Ermächtigung in ihrem Wortlaut so genau wie nur irgend möglich gefasst ist. Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung müssen auch nicht ausdrücklich im Gesetzestext bestimmt sein; sie müssen jedoch durch Auslegung des ermächtigenden Gesetzes zu ermitteln sein (vgl. ebd. Rn. 203 m.w.N.). Das im konkreten Fall erforderliche Maß an Bestimmtheit hängt daneben von der Eigenart des zu regelnden Sachverhalts ab. Bei vielgestaltigen, komplexen Lebenssachverhalten oder absehbaren Änderungen der tatsächlichen Verhältnisse sind etwa geringere Anforderungen an die Bestimmtheit zu stellen als bei einfach gelagerten und klar vorhersehbaren Lebenssachverhalten (vgl. ebd., Rn. 204 m.w.N.).

 

20

Bei Zugrundlegung dieses Maßstabs ist die Norm voraussichtlich nicht zu beanstanden. Der Inhalt der Ermächtigung ergibt sich aus § 28c IfSG. Danach ist die Bundesregierung zum einen ermächtigt, die dort genannten „Erleichterungen oder Ausnahmen von Geboten und Verboten nach dem fünften Abschnitt dieses Gesetzes oder von aufgrund der Vorschriften im fünften Abschnitt dieses Gesetzes erlassenen Geboten und Verboten zu regeln“. Die Norm ist zum anderen dahingehend auszulegen, dass sie auch ermächtigt ist, den Kreis der „Personen, bei denen von einer Immunisierung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 auszugehen“ ist, näher zu bestimmen. Zweck und Ausmaß der Ermächtigung sind dabei systematisch durch § 1 Abs. 1 und § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 in Verbindung mit § 28a IfSG hinreichend bestimmbar vorgegeben. Ziel der Maßnahmen, von denen nach § 28c IfSG Erleichterungen und Ausnahmen geregelt werden können, ist die Eindämmung der Verbreitung des Coronavirus und der hierdurch verursachten Krankheit COVID-19 durch Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit und zur Bewältigung der Auswirkungen auf das Gesundheitswesen. Personen, bei denen von einer Immunisierung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 auszugehen ist, sind danach Personen, bei denen aufgrund einer durchgemachten Infektion oder aufgrund einer Schutzimpfung typischerweise von einer Schutzwirkung vor einer (Neu-)Infektion, von einer reduzierten Infektiosität und einer signifikant geringeren Gefahr eines schweren Krankheitsverlaufs ausgegangen werden kann. Dabei entspricht es derzeitigen Erkenntnissen, dass die Immunantwort bei einer durchgemachten Infektion oder einer Impfung nicht binär mit „geschützt“ und „ungeschützt“ beantwortet werden kann, sondern wesentlich von individuellen Faktoren (Alter und gesundheitliche Verfassung des Betroffenen, Dauer seit der Impfung/Infektion, Wirksamkeit des verwendeten Impfstoffs, Infektion mit welcher Virusvariante, Schwere des Krankheitsverlaufs) abhängt (vgl. Robert Koch-Institut, Epidemiologischer Steckbrief zu SARS-CoV-2 und COVID-19, Stand: 26. November 2021, Punkt Nr. 18 „Immunität“, https://www.rki.de/DE/Content/ InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html, abgerufen am 17. Februar 2022). Die Frage, welcher Immunschutz danach als ausreichend zu erachten ist, um daran Erleichterungen oder Ausnahmen von Geboten und Verboten anzuknüpfen, ist eine Wertungsfrage, die nach § 28c IfSG je nach Stand des Infektionsgeschehens und der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnislage durch die Bundesregierung beantwortet werden soll. Ist es das Ziel, aufgrund einer äußerst angespannten Gefahrenlage Neuinfektionen von vornherein weitestgehend zu verhindern, dürften wesentlich strengere Anforderungen an den ausreichenden Immunschutz zu stellen sein, als wenn das Ziel lediglich die Verhinderung schwerer Krankheitsverläufe ist. Angesichts der Eigenart des zu regelnden Sachverhalts (im Fluss befindliche wissenschaftliche Erkenntnislage, absehbare Änderungen der tatsächlichen Verhältnisse wie dem Infektionsgeschehen allgemein und der Entstehung neuer Virusvarianten im Besonderen, Neu- oder Weiterentwicklung von Impfstoffen) ist hier ein geringeres Maß an Bestimmtheit hinzunehmen.

 

21

(2) Die Regelung des § 2 Nr. 3 SchAusnahmV überschreitet in der nach Änderungsverordnung vom 14. Januar 2022 nunmehr vorliegenden Ausgestaltung jedoch die Grenzen der gesetzlichen Ermächtigung, indem sie die nach § 28c IfSG von der Bundesregierung zu regelnde Frage, bei welchen Personen von einer Immunisierung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 auszugehen ist, in verfassungswidriger Weise auf eine Bundesoberbehörde „im Benehmen“ mit einer anderen Bundesoberbehörde überträgt.

 

22

In der Rechtsprechung ist allerdings geklärt, dass ein Normgeber im Rahmen seiner Regelungen auch auf Vorschriften anderer Normgeber und sogar auf von nichtstaatlichen Normungsgremien geschaffene Regelwerke Bezug nehmen darf (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. Februar 2016 - 1 BvL 8/10 -, juris Rn. 75; BVerwG, Urteil vom 27. Juni 2013 - 3 C 21/12 -, juris Rn. 37 ff.; Urteil vom 26. März 2015 - 5 C 9.14 -, juris Rn. 25). Zulässig dürften daneben auch Bezugnahmen auf schlichte Wissensmitteilungen ohne Normcharakter sein (vgl. hinsichtlich der Bezugnahme auf die vom Robert Koch-Institut veröffentlichte Sieben-Tage-Inzidenz: Bayerischer VGH, Beschluss vom 28. Juli 2020 - 20 NE 20.1609 -, juris Rn. 43; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 -, juris, in dem die entsprechende Bezugnahme in § 28b Abs. 1 Satz 2 IfSG a.F. nicht beanstandet wurde). Hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung sind Verweisungen dann unproblematisch, wenn der verweisende Normgeber sich den Inhalt von Rechtsvorschriften des anderen Normgebers in der Fassung zu eigen macht, wie sie bei Erlass seiner Norm galt (statische Verweisung; vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. März 2020 - 2 BvL 5/17 -, juris Rn. 79). Verweist ein Normgeber hingegen auf andere Vorschriften in ihrer jeweils geltenden Fassung (dynamische Verweisung), kann dies dazu führen, dass er den Inhalt seiner Vorschriften nicht mehr in eigener Verantwortung bestimmt und damit der Entscheidung Dritter überlässt. Allerdings sind dynamische Verweisungen nicht schlechthin ausgeschlossen, sondern nur soweit Rechtsstaatlichkeit, Demokratiegebot und Bundesstaatlichkeit dies erfordern; grundrechtliche Gesetzesvorbehalte können diesen Rahmen zusätzlich einengen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. März 2020, a.a.O.). Für die Beantwortung der Frage, ob die einer dynamischen Verweisung von Verfassungs wegen gezogenen rechtlichen Grenzen eingehalten wurden, kommt es neben dem Sachbereich und der damit verbundenen Grundrechtsrelevanz wesentlich auf den Umfang der Verweisung an (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Juni 2013, a.a.O., Rn. 42 f. m.w.N.). Für den Verordnungsgeber besteht insoweit eine weitere Grenze, als dass nach Artikel 80 Abs. 1 Satz 4 GG eine Weiterübertragung der ihm übertragenen Ermächtigung durch das Gesetz vorgesehen sein muss. Eine derartige Subdelegation liegt allerdings nur dann vor, wenn auch die Befugnis zum Erlass einer Rechtsverordnung übertragen wird; dies ist nicht der Fall, wenn der Verordnungsgeber lediglich ein Tätigwerden Dritter ermöglicht oder deren konsultative Einbindung in ein behördliches Verfahren vorsieht (vgl. BVerfG, Urteil vom 19. September 2018 - 2 BvF 1/15 -, juris Rn. 208).

 

23

Die danach von Verfassungs wegen gezogenen rechtlichen Grenzen einer Verweisung werden hier überschritten (vgl. zum in der Regelungstechnik vergleichbaren § 2 Nr. 5 SchAusnahmV auch VG Berlin, Beschluss vom 16. Februar 2022 - 14 L 24/22 -, zur Veröffentlichung auf juris vorgesehen; VG Hamburg, Beschluss vom 14. Februar 2022 - 14 E 414/22 -, juris Rn. 33 ff.).

 

24

Während die Bezugnahme auf die Webseite des PEI nach der Vorgängernorm lediglich einen dynamischen Verweis auf eine schlichte Wissensmitteilung der Bundesoberbehörde ohne Normcharakter über die im europäischen zentralisierten Verfahren zugelassenen Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 und die nach der Zulassung für den Impfstoff erforderliche Anzahl von Einzelimpfungen und die Möglichkeit von Kreuzimpfungen enthielt (vgl. bereits die Ausführungen unter I.), wird nach der aktuell bestehenden Regelung nunmehr dem PEI die Befugnis übertragen, eigenständig und unmittelbar losgelöst von der erteilten Zulassung wesentliche Vorgaben zum Bestehen und Entfallen des Impfnachweises zu machen. Dabei handelt es sich um eine nach Artikel 80 Abs. 1 Satz 4 GG nicht zulässige Subdelegation. Zwar wird die Befugnis zum Erlass einer Rechtsverordnung hier nicht ausdrücklich auf die Fachbehörde übertragen. Der Sache nach kommt die bestehende Regelung jedoch einer Subdelegation gleich. § 2 Nr. 3 SchAusnahmV verweist nicht auf ein unabhängig von der verweisenden Norm und mit eigener rechtlicher Bedeutung (als Gesetz, Rechtsverordnung oder Verwaltungsvorschrift) bereits existierendes Regelwerk, vielmehr wird - wie bei einer Delegation - das PEI erst ermächtigt, entsprechende Vorgaben hinsichtlich bestimmter Kriterien zu veröffentlichen (so zutreffend - hinsichtlich der Parallelnorm des § 2 Nr. 5 SchAusnahmV: Wissenschaftliche Dienste des Bundestags, Ausarbeitung zur Verfassungsmäßigkeit der Regelung des Genesenennachweises durch Rechtsverordnung vom 28. Januar 2022, WD 3 - 3000 - 006/22, S. 9 f.). Der normative Charakter der vom PEI zu treffenden Vorgaben kommt auch darin zum Ausdruck, dass die Entscheidung des PEI „im Benehmen mit dem Robert Koch-Institut“ und „unter Berücksichtigung des aktuellen Stands der medizinischen Wissenschaft“ erfolgen und damit offenbar eine Abwägung durch das PEI vorgenommen werden soll. Dass das PEI hier von einer eigenen Rechtsetzungskompetenz ausgeht, geht auch aus dem Inhalt der verwiesenen Webseite hervor, wonach „Änderungen der Kriterien (…) an dieser Stelle mit angemessener Frist bekannt gemacht“ werden. Die Bekanntmachung mit „angemessener Frist“ bezweckt offensichtlich einen Interessenausgleich zwischen aktuellem Stand der medizinischen Wissenschaft und den Interessen der von einer Änderung Betroffenen im Rahmen einer Abwägung. Die danach vorliegende Überschreitung der rechtlichen Grenzen der Ermächtigungsgrundlage kann auch nicht dadurch „geheilt“ werden, dass Bundestag und Bundesrat der Änderungsverordnung, wie es § 28c Satz 3 IfSG vorsieht, zugestimmt haben, denn auch sie sind im Rahmen des Zustimmungserfordernisses an die verfassungsrechtlichen Vorgaben und die Vorgaben der Ermächtigungsgrundlage gebunden (vgl. Artikel 20 Abs. 3 GG).

 

25

(3) Es kann danach offenbleiben, ob die in § 2 Nr. 3 SchAusnahmV gewählte Regelungstechnik im Übrigen verfassungsmäßigen Anforderungen genügt (zweifelnd: BVerfG, Beschluss vom 10. Februar 2022 - 1 BvR 2649/21 -, juris Rn 14). Es kann insbesondere offenbleiben, ob die Regelung gegen das rechtsstaatliche Publizitätserfordernis und das Gebot der Normenklarheit verstößt (so zu § 2 Nr. 5 SchAusnahmV: VG Hamburg, a.a.O., Rn. 29 ff., 38 ff.). Ob die Regelung in § 2 Nr. 3 SchAusnahmV darüber hinaus rechtswidrig ist, weil die Vorgabe einer zusätzlichen Einzelimpfung zur Erlangung des vollständigen Impfschutzes auf Grundlage der vom Robert Koch-Institut am 20. Januar 2022 veröffentlichten 17. Aktualisierung der COVID-19-Impfempfehlung sachlich verfehlt oder unzureichend begründet worden ist sowie - insbesondere aufgrund der fehlenden Übergangsregelung - eventuell unverhältnismäßig in Grundrechte der Betroffenen eingreift, bedarf vor dem Hintergrund der unabhängig davon mit hoher Wahrscheinlichkeit bestehenden Verfassungswidrigkeit von § 2 Nr. 3 SchAusnahmV ebenfalls keiner Entscheidung.

 

26

2. Die Antragstellerin hat auch das Bestehen eines Anordnungsgrundes auf eine die Vorwegnahme der Hauptsache rechtfertigende Weise glaubhaft gemacht.

 

27

Aufgrund der mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmenden Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Vorschrift ist die Antragstellerin nach vorläufiger Einschätzung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren in grundrechtlich geschützten Positionen verletzt. Aufgrund der Änderung der Vorschrift des § 2 Nr. 3 SchAusnahmV ist sie derzeit und fortwährend nicht gerechtfertigten (mittelbaren) Verletzungen jedenfalls der allgemeinen Handlungsfreiheit (Artikel 2 Abs. 1 GG) durch den Wegfall von Erleichterungen und Ausnahmen von infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen des Bundes und der Länder ausgesetzt. Dies lässt es als unzumutbar erscheinen, sie auf das Abwarten einer Hauptsacheentscheidung zu verweisen. Die Eingriffswirkungen könnten nachträglich nicht mehr beseitigt werden (vgl. zum funktionalen Zusammenhang zwischen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund etwa Schoch, in ders./Schneider, VwGO, 41. Erg.-Lfg. Juli 2021, § 123 Rn. 77, 83).

 

III.

28

Das Gericht hielt es für geboten, die individuelle Geltung der Vorgängervorschrift für die Antragstellerin im Tenor ausdrücklich klarzustellen (vgl. § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit § 938 Abs. 1 ZPO).

 

IV.

29

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Werts des Verfahrensgegenstands beruht auf § 52 Abs. 1 und 2, § 53 Abs. 2 Nr. 1 des Gerichtskostengesetzes (GKG). Das Gericht setzt den Auffangstreitwert dabei wegen der insoweit begehrten Vorwegnahme der Hauptsache in voller Höhe an (vgl. Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit, NVwZ-Beilage 2013, 57, Punkt 1.5 Satz 2).