Kein Anspruch auf Erteilung einer Reparaturfreigabe

Das Oberlandesgericht Celle hat mit kürzlich veröffentlichtem Urteil vom 01.12.2021 (Aktenzeichen: 14 U 83/21) eine lange Zeit umstrittene Frage geklärt: Ein Geschädigter hat gegenüber der gegnerischen Haftpflichtversicherung keinen Anspruch auf Erteilung einer Reparaturfreigabe. Dies gilt zumindest dann, wenn die gegnerische Haftpflichtversicherung die Besichtigung des verunfallten Fahrzeuges nicht begehrt hat.

Der Entscheidung zugrunde lag folgender Sachverhalt:

 

Die geschädigte Klägerin meinte, mit Rücksicht auf eine sog. Kettenauffahrsituation sei zunächst unklar gewesen, wer für den Schaden haftet. Sie hätte der gegnerischen Haftpflichtversicherung daher am 21.11.2019 mitgeteilt, dass ihr Fahrzeug in die Werkstatt gebracht worden sei und um eine Reparaturfreigabe gebeten, um dem Versicherer Gelegenheit zu geben, das Fahrzeug vorher zu begutachten. Sie meinte, sie müsse zunächst die Reparaturfreigabe abwarten, um dem Versicherer Gelegenheit zu geben, das Fahrzeug noch zu besichtigen. Deshalb habe sie abwarten müssen, bevor sie nach Erteilung der Reparaturfreigabe den Reparaturauftrag erteilt habe. 

 

Das Oberlandesgericht Celle ist jedoch anderer Ansicht und führte aus:

 

Der Anspruch auf Nutzungsausfall bzw. Vorhaltekosten besteht für die erforderliche Ausfallzeit eines Fahrzeugs. Diese setzt sich aus der notwendigen Reparatur- oder Wiederbeschaffungsdauer zuzüglich der Zeit für die Schadenfeststellung und ggf. einer angemessenen Überlegungszeit zusammen. Die Dauer umfasst insbesondere regelmäßig die für die vorherige Einholung eines Sachverständigengutachtens erforderliche Zeit. Maßgeblich bei diesem Zeitraum ist nicht der von einem Sachverständigen geschätzte (fiktive), sondern der durch die Reparatur oder bis zur Ersatzbeschaffung tatsächlich verstrichene Zeitraum, wobei der Unfalltag grundsätzlich mitzählt (vgl. zum Ganzen z. B. Geigel-Katzenstein, Der Haftpflichtprozess, 28. Aufl. 2020, Kapitel 3 Rn 193 m. w. N.; Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke-Jahnke, StVR-Kommentar, 26. Aufl. 2020, § 249 BGB Rn 195 m. w. N.). Ausgehend hiervon ist ein erstattungsfähiger Zeitraum, der über jenen von dem Landgericht zugesprochenen Zeitraum hinausgeht, klägerseits nicht schlüssig dargetan.

 

a) Der Geschädigte muss die Reparatur bzw. Ersatzbeschaffung zügig in die Wege leiten. Er hat unter Beachtung der ihm zustehenden Zeit für die Schadenfeststellung sowie ggf. einer angemessenen Überlegungsfrist den schnellstmöglichen Beginn der tatsächlichen Fahrzeugreparatur/Wiederbeschaffung zu veranlassen (vgl. OLG Saarbrücken, Urt. v. 27.2.2007 - 4 U 470/06; Jahnke, a. a. O., Rn 198 m. w. N.). Tut er dies nicht, gehen derartige unfallunabhängige Verzögerungen zu seinen Lasten, weil eine unbegründet verzögerte Erteilung des Reparaturauftrages einen Verstoß gegen die Schadensgeringhaltungspflicht nach § 254 Abs. 2 BGB begründet. So liegt es im vorliegenden Fall, denn nach Erhalt der Schadengutachten sowohl zum Zugfahrzeug als auch zum Auflieger, jeweils vom 1.11.2019, hätte die Klägerin schnellstmöglich den Reparaturauftrag erteilen müssen und auch können. Die Gutachten weisen jeweils eindeutige Reparaturfälle aus, sodass der Klägerin im vorliegenden Fall - mangels anderweitigen Vortrages dazu - auch keine Überlegungszeit für die Frage der Reparatur oder Ersatzanschaffung einzuräumen war. Soweit die Klägerin sich zur Begründung ihrer verzögerten Reparaturauftragserteilung auf das Abwarten einer Reparaturfreigabe seitens der vorprozessual im Inland tätigen Regulierungsbeauftragten (H.C.) beruft, vermag sie damit nicht durchzudringen. Da einem Kfz-Haftpflichtversicherer grundsätzlich kein Anspruch auf eigene Fahrzeugbesichtigung zusteht, kann ihm gegenüber nicht umgekehrt eine Obliegenheit zur Erteilung einer Reparaturfreigabe auferlegt werden mit der Folge, dass etwaige Verzögerungen bis zur Reparaturfreigabe zu seinen Lasten gehen, solange sich nicht aus den Umständen des Einzelfalles etwas anderes ergibt, was hier indes nicht der Fall ist. Im Einzelnen:

 

aa) Es gibt grundsätzlich keinen Anspruch eines Kfz-Haftpflichtversicherers auf eine eigene (Nach-)Besichtigung des unfallbeschädigten Fahrzeugs des Anspruchsgegners, sodass der Reparaturauftrag unabhängig von einer etwaigen Freigabe des Kfz-Haftpflichtversicherers zu erteilen ist, wenn nicht die Umstände des Einzelfalles ausnahmsweise etwas Anderes gebieten. Die Mitwirkungspflichten des Geschädigten gegenüber dem eintrittspflichtigen Haftpflichtversicherer ergeben sich aus § 119 Abs. 3 VVG. Nach dieser Vorschrift kann der Versicherer von dem Dritten Auskunft verlangen, soweit sie zur Feststellung des Schadensereignisses und der Höhe des Schadens erforderlich ist. Belege kann der Versicherer insoweit verlangen, als deren Beschaffung dem Dritten billigerweise zugemutet werden kann. Inhaltlich geht die Mitwirkungspflicht des Dritten demnach dahin, dass der Versicherer alle sachdienlichen Angaben erhalten soll, die ihm eine sachgerechte Entscheidung über seine Eintrittspflicht dem Grunde und der Höhe nach ermöglichen (vgl. Langheid/Rixecker-Langheid, VVG-Kommentar, 6. Aufl. 2019 § 119 Rn 7). Ein Anspruch auf eine eigene Fahrzeugbesichtigung geht hieraus indes nicht hervor (vgl. z. B. LG Lübeck - Beschluss vom 19.04.2013 - 16 O 19/12). Ein genereller Anspruch auf Nachbesichtigung des unfallbeschädigten Fahrzeugs steht dem Versicherer nicht zu.

 

bb) Etwas anderes kann sich ausnahmsweise aus dem zwischen dem Geschädigten und dem Haftpflichtversicherer nach § 115 Abs. 1 VVG zustande gekommenen gesetzlichen Schuldverhältnis ergeben. Dem Geschädigten sind in Grenzen Pflichten zur Rücksichtnahme auf den Haftpflichtversicherer bei der Schadenfeststellung auferlegt, deren Verletzung über prozessuale Nachteile für die Durchsetzung der eigenen Schadensersatzansprüche hinaus sogar unter besonderen Umständen zum Ersatz von Schäden des Versicherers verpflichten kann. Aufgrund derartiger Rücksichtnahmeobliegenheiten kann sich ausnahmsweise im Einzelfall auch ein Anspruch des Haftpflichtversicherers auf Nachbesichtigung des beschädigten Fahrzeugs ergeben, sodass eine grundlose Verweigerung durch den Geschädigten eine Nebenpflichtverletzung aus dem gesetzlichen Schuldverhältnis darstellen kann. Kann beispielsweise ein Haftpflichtversicherer begründete Zweifel an der Richtigkeit des vom Geschädigten vorgelegten Privatgutachtens vorbringen, verstößt der Geschädigte gegen die ihm obliegende Rücksichtnahmepflicht, wenn er dem vom Haftpflichtversicherer beauftragten Sachverständigen ohne einen berechtigten Grund die Besichtigung des Fahrzeugs verwehrt (vgl. BGH, Urt. v. 11.10.1983 - VI ZR 251/81 - juris-Rn 16; OLG Saarbrücken, Beschluss vom 29.05.2018 - 4 W 9/18 - juris-Rn 14). So liegt der vorliegende Fall aber keineswegs. Der Beklagte respektive die Regulierungsbeauftragte haben weder begründete Zweifel noch überhaupt etwaige Einwendungen gegen die Richtigkeit der von der Klägerin eingeholten zwei Gutachten erhoben. Ohne solche objektiv berechtigten Zweifel kann es auch keine Pflicht der Klägerin gegeben haben, der Regulierungsbeauftragten die eigene Fahrzeugbesichtigung, die sie nicht einmal verlangt hat, zu ermöglichen, sodass es im Umkehrschluss dazu auch keinerlei Bedürfnis für eine etwaige Reparaturfreigabe der Regulierungsbeauftragten geben konnte. Denn nur rein theoretische Einwendungen, die ein Unfallgeschädigter befürchtet, führen nicht zur Pflicht, vor einem etwaigen Reparaturauftrag eine Reparaturfreigabe des Versicherers einzuholen. Ein Verstoß gegen die Rücksichtnahmepflicht wegen grundlos verweigerter Fahrzeugbesichtigung durch den Versicherer ist freilich auch erst dann anzunehmen, wenn dies dem Unfallgeschädigten subjektiv vorzuwerfen ist. Dafür ist Voraussetzung, dass der Geschädigte Kenntnis von dem Begehren des Versicherers auf Nachbesichtigung hat. Hat der Geschädigte aber bereits die Reparatur durchgeführt oder sein Fahrzeug veräußert, bevor der Haftpflichtversicherer sein Begehren auf eigene Fahrzeugbesichtigung dem Geschädigten kundtut, ist diesem das Einräumen der tatsächlichen Fahrzeugnachbesichtigung unmöglich, sodass in diesem Fall ein Verstoß gegen die Rücksichtnahmepflicht ausgeschlossen ist. Solange also der Haftpflichtversicherer nicht mit begründeten Zweifeln am geltend gemachten Schaden dem Geschädigten den eigenen Wunsch auf Nachbesichtigung bekannt macht, hat es grundsätzlich dabei zu bleiben, dass der Geschädigte den schnellstmöglichen Beginn der Reparatur zu veranlassen hat. In aller Regel wird ein Begehren auf eigene Nachbesichtigung nur in jenen Fällen geäußert, in denen gewisse Anhaltspunkte für betrügerische Anspruchserhebungen gegeben sind, beispielsweise einer Unfallmanipulation oder auch der Mitabrechnung von unfallfremden Schäden. Im vorliegenden Fall gab es jedoch von vornherein - sowohl mit Blick auf die eigentliche Unfallkonstellation als auch im Übrigen - nicht den geringsten Ansatzpunkt, die den Verdacht einer betrügerischen Anspruchserhebung hätten begründen können. Zudem hat die Regulierungsbeauftragte gegenüber der Klägerin ohnehin nie den Wunsch auf eigene Besichtigung geäußert.

 

cc) Zusammenfassend bestand mithin kein Anspruch des Beklagten bzw. der Regulierungsbeauftragten auf eigene Fahrzeugnachbesichtigung. Wenn jedoch dem Versicherer weder ein genereller Anspruch auf Fahrzeugnachbesichtigung zusteht, noch im konkreten Fall ein solcher Anspruch zustand, noch überhaupt eine eigene Besichtigung begehrt wurde, kann dem Beklagten bzw. der Regulierungsbeauftragten nicht umgekehrt eine Reparaturfreigabe mit der Folge abverlangt werden, dass ihm ein verzögerter Zeitraum bis zum tatsächlichen klägerischen Reparaturauftrag angelastet wird. Etwas anders kann nur dann gelten, wenn - wie ausgeführt - der Haftpflichtversicherer gegenüber dem Geschädigten seinen Wunsch auf Nachbesichtigung kundtut, dem Geschädigten das Einräumen der Nachbesichtigung tatsächlich (noch) möglich und zumutbar ist und er dem Versicherer diese Möglichkeit - ob nun kraft gesetzlichem Schuldverhältnis verpflichtet oder freiwillig - auch einräumt. Denn erst dann erwächst ein Vertrauenstatbestand für den Geschädigten dahingehend, dass er keine Nachteile dadurch erleiden soll, dass er dem Versicherer die Nachbesichtigung ermöglicht und aus diesem Grund auf dessen Reparaturfreigabe wartet. So liegt der vorliegende Fall indes nicht, wie ausgeführt.

 

dd) Auch, soweit die Klägerin in diesem Zusammenhang auf Schwierigkeiten bei der Ermittlung des eintrittspflichtigen Versicherers verweist, zumal der H. als Haftpflichtversicherer des dritten (mittleren) unfallbeteiligten Lkw-Gespanns sich zunächst nicht klar zu seiner Haftung geäußert bzw. diese später auch abgelehnt habe, führt dies nicht zu einer anderen Betrachtung. Wie der H. sich gegenüber der Klägerin verhalten hat, spielt im Verhältnis der Klägerin zum Beklagten keinerlei Rolle. Zudem entbindet eine mögliche Schwierigkeit bei der Ermittlung des eintrittspflichtigen Versicherers den Geschädigten grundsätzlich nicht davon, zur Schadensgeringhaltung den Reparaturauftrag zeitig in die Wege zu leiten. Umstände, die zu einer anderen Bewertung führen könnten, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.