Kein Vorsatz selbst bei gravierender Unterschreitung des Sicherheitsabstands

Mit nunmehr veröffentlichten Beschluss vom 15.11.2021 (Aktenzeichen: 3 OWi 32 SsBs 239/21, veröffentlicht in DAR 2022, 221) hat das OLG Koblenz klargestellt, dass selbst bei gravierender Unterschreitung des Sicherheitsabstandes - anders als etwa bei erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitungen innerhalb allgemein geltender Geschwindigkeitsbegrenzungen - nicht allein aus dem Ausmaß des Verstoßes auf Vorsatz geschlossen werden kann. Es sind vielmehr regelmäßig ergänzende Feststellungen zur Fahrweise des vorausfahrenden Fahrzeugs erforderlich, die ihrerseits zur Verringerung des Abstandes beigetragen haben könnten (abruptes Gaswegnehmen, Bremsen, plötzliches Ausscheren vor dem Betroffenen). 

 

Dem Beschluss lag folgender Sachverhalt zugrunde:

 

Am 8. Juli 2021 hat das Amtsgericht Mayen die Betroffene wegen vorsätzlicher Abstandsunterschreitung zum Vorausfahrenden (Tatzeit. 01.10.2020) zu einer Geldbuße von 500,- Euro verurteilt und gegen sie - abweichend vom Bußgeldbescheid ohne eine Anordnung nach § 25 Abs. 2a StVG - ein Fahrverbot von einem Monat verhängt.

 

Die Feststellung des Amtsgerichts lautete

Am 1. Oktober 2020 befuhr sie gegen 11.24 Uhr mit ihrem Pkw Range Rover mit dem amtlichen Kennzeichen … die Bundesautobahn 61, wobei sie in der Gemarkung Mendig bei Kilometer 209,150 in Fahrtrichtung Koblenz bei einer Geschwindigkeit von 126 km/h zu dem vorausfahrenden Pkw lediglich einen Abstand von 17 Metern einhielt. Im Bereich der Messstrecke zwischen 300 und 50 Meter vor dem Messpunkt vergrößerte sich der Abstand nicht.

 

Gegen das amtsgerichtliche Urteil wurde Rechtsbeschwerde eingelegt.

 

Das Oberlandesgericht hob das Urteil des Amtsgerichts auf und begründete dies wie folgt: 

 

[...]

Die Sachrüge hat Erfolg, da ein Darstellungsfehler in der Beweiswürdigung durchgreift. Die Beweiswürdigung ist allein Sache des Tatrichters und seine Entscheidung vom Rechtsbeschwerdegericht grundsätzlich hinzunehmen. §§ 261 und 267 StPO verpflichten den Tatrichter jedoch, in den Urteilsgründen darzulegen, dass seine Überzeugung von den die Anwendung des materiellen Rechts tragenden Tatsachen auf einer umfassenden von rational nachvollziehbaren Überlegungen bestimmten Beweiswürdigung beruht (vgl. BGH. Beschl. 2 StR 152/20 v. 18.11.2020 - juris). Der Tatrichter ist über den Wortlaut des § 267 Abs. 1 Satz 2 StPO hinaus verpflichtet, die wesentlichen Beweiserwägungen in den Urteilsgründen so darzulegen dass seine Überzeugungsbildung für das Beschwerdegericht nachzuvollziehen und auf Rechtsfehler zu überprüfen ist (vgl. KK-StPO/Kuckein/Bartel. 8. Aufl. § 267 Rn. 12 m.w.N.).

 

Dem werden die Ausführungen zu der Annahme einer vorsätzlichen Tatbegehung im vorliegenden Fall nicht gerecht. Selbst bei gravierender Unterschreitung des Sicherheitsabstandes kann - anders als etwa bei erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitungen innerhalb allgemein geltender Geschwindigkeitsbegrenzungen - nicht allein aus dem Ausmaß des Verstoßes auf Vorsatz geschlossen werden. Es sind vielmehr regelmäßig ergänzende Feststellungen zur Fahrweise des vorausfahrenden Fahrzeugs erforderlich, die ihrerseits zur Verringerung des Abstandes beigetragen haben könnten (abruptes Gaswegnehmen, Bremsen, plötzliches Ausscheren vor dem Betroffenen). Denkbar wäre auch, dass der Betroffene nur ganz kurz so dicht aufgefahren ist, weil er aufgrund der konkreten Verkehrssituation davon ausgehen durfte, der Vordermann werde, dem Rechtsfahrgebot folgend, die Überholspur unverzüglich freigeben (vgl. OLG Koblenz, Beschl. 1 Ss 293/00 v. 12.02.2000 - beck-online).

 

Umstände, aufgrund derer der Tatrichter im konkreten Fall auf mindestens Eventualvorsatz bei Begehung der Abstandsunterschreitung schließen kann, sind etwa die Länge der gefahrenen Strecke, das Maß der Fahrpraxis aufgrund der gefahrenen Jahreskilometer und die Dauer des Besitzes der Fahrerlaubnis (vgl. OLG Hamm, Beschl. 3 Ss OWi 351/04 v. 22.07.2004 - juris).

 

In den Urteilsgründen heißt es hierzu in den Feststellungen, dass sich der gemessene Abstand, der bei einer gefahrenen Geschwindigkeit von 126 km/h nur 17 Meter und damit weniger als 3/10 des halben Tachowertes betrug, im Bereich der Messstrecke zwischen 300 und 50 Meter vor dem Messpunkt nicht vergrößert habe. An anderer Stelle wird hierzu ergänzend ausgeführt, dass sich dieser Abstand trotz der Möglichkeit, die eigene Geschwindigkeit zu verringern und damit den Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug zu vergrößern, „über die gesamte Distanz von über 300 Metern nicht geändert“ habe. Hieraus ergebe sich eine vorsätzliche Begehungsweise, die noch dazu indiziert sei durch die „starke Unterschreitung des Mindestabstands, der [sic] einem nicht vollkommen ungeübten Pkw-Fahrer sofort klar sein muss, dass es sich bei der Betroffenen um einen vollkommen ungeübten Pkw-Fahrer handelt, ist nicht vorgetragen und ob des Lebensalters auch nicht offensichtlich oder sonst irgendwie sich aufdrängend“.

 

Aus diesen Ausführungen ergibt sich zunächst ein Widerspruch dahingehend, dass die Lange der Abstandsunterschreitung einmal auf einer Strecke von 250 Metern und einmal auf einer solchen von 300 Metern beschrieben wird. Angaben zur zeitlichen Dauer der Abstandsunterschreitung finden sich in den Urteilsgründen ebenso wenig wie eine Beschreibung des Fahrverhaltens der beteiligten Fahrzeuge. Es wird lediglich an anderer Stelle angegeben, dass es in der Akte eine Übersichtsaufnahme und eine Ausschnittsvergrößerung gebe, bei denen sich der Zeitindex um lediglich zwei Hundertstel unterscheide. Diese Erkenntnis zieht das Amtsgericht offensichtlich aus in der Akte befindlichen Lichtbildern, bezieht es sich doch bezüglich der Abschnittsvergrößerung auf Seite 9 der Bußgeldakte. Selbst wenn man diese Ausführungen bezüglich dieser Aufnahme als einen ausreichenden Verweis nach § 71 OWiG i.V.m. § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO gelten lassen würde, ist jedoch zu beachten, dass ein solcher Verweis nur auf die Abbildung selbst, nicht aber auf die Informationen im eingeblendeten Messprotokoll möglich ist (vgl. OLG Hamm, Beschl. 4 RB2 324/15 v. 21.01.2016 - NZV 2016, 241). Der Zeitstempel ist somit von einem etwaigen Verweis nicht umfasst. Welche Zeitangaben tatsächlich auf den Aufnahmen zu lesen sind, lässt sich den Urteilsgründen jedoch nicht entnehmen und ist dem Senat auch auf anderem Weg nicht zugänglich. Ebenso lässt sich den Urteilsgründen nicht entnehmen, woher das Amtsgericht Erkenntnisse über die Länge der Messstrecke, die Länge der Abstandsunterschreitung und die Fahrpraxis der Betroffenen gewonnen hat. Der pauschale Verweis auf die „in der Hauptverhandlung durch Inaugenscheinnahme sowie urkundliche Verwertung zum Gegenstand der [sic] gemachten Beweismittel“ ermöglicht dem Rechtsbeschwerdegericht keine ausreichende Überprüfungsmöglichkeit. Insbesondere wird hiervon auch nicht die auf einem Datenträger gespeicherte Videoaufzeichnung der Abstandsmessung erfasst.

 

Eine Bezugnahme gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG auf die in digitaler Form gespeicherten Videosequenzen ist den Urteilsgrunden nämlich nicht zu entnehmen und auch rechtlich nicht möglich. § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO setzt voraus, dass die in Rede stehende Abbildung in dem Sinne selbst Aktenbestandteil geworden ist, dass sie unmittelbar wahrgenommen werden kann. Dies ist bei auf elektronischen Medien gespeicherten Bilddateien nicht der Fall. Zu ihrer Wahrnehmung bedarf es des Speichermediums und weiterer technischer Hilfsmittel, die das Abspielen ermöglichen (Senat, Beschl. 3 OWi 6 SsBs 308/19 v. 11.12.2019: BGH. Urt. 2 StR 332/11 v. 02.11.2011 - juris: Meyer-Goßner/Schmitt. StPO, 63. Aufl. § 267 StPO Rn. 9).

 

Eine Beschreibung der in digitaler Form gespeicherten Videosequenzen, auf deren Grundlage es dem Senat in gleicher Weise wie bei Betrachtung eines Fotos möglich wäre, zu prüfen, ob diese eine vorsätzliche Tatbegehung belegen könnten, enthalten die Urteilsgründe ebenfalls nicht.

 

Eine eigene Sachentscheidung (§ 79 Abs. 6 Alt. 1 OWiG) war der Einzelrichterin des Senats mit Blick auf den durchgreifenden Darstellungsmangel verwehrt. Die Sache ist deshalb unter Aufhebung auch der Feststellungen an das Amtsgericht zurückzuverweisen. Anlass von der Möglichkeit Gebrauch zu machen, die Sache an eine andere Abteilung oder ein anderes Amtsgericht zu verweisen (§ 79 Abs. 6 Alt. 2 und 3 OWiG), bestand nicht. Auf die Zulässigkeit und Begründetheit der erhobenen Verfahrensrügen sowie die weiteren Ausführungen der Sachrüge kommt es somit nicht mehr an.

 

Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat gleichwohl auf Folgendes hin:

 

1. Den Urteilsgründen lässt sich nicht entnehmen, warum das Amtsgericht - abweichend von der Anordnung im Bußgeldbescheid - bei der Verhängung des Fahrverbots von § 25 Abs. 2a StVG keinen Gebrauch gemacht hat. Dessen Voraussetzungen liegen jedenfalls nach der zuletzt eingeholten Auskunft aus dem Fahreignungsregister, das für die Betroffene bislang keine Eintragung enthält, vor. Sollten diese Voraussetzungen auch im Zeitpunkt einer zukünftigen Entscheidung vorliegen, wird das Amtsgericht die Schonfrist anzuordnen haben.

 

2. im Falle einer erneuten Verurteilung kann eine Erhöhung der (ggf. wegen vorsätzlicher Tatbegehung verdoppelten) Regelgeldbuße mit einer Uneinsichtigkeit der Betroffenen in ihr verkehrswidriges Verhalten nicht begründet werden, insbesondere solange sich ihre Verteidigungsstrategie - was bisher der Fall war - im Rahmen des rechtlich Zulässigen bewegt. Auf die insoweit zutreffenden Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft in ihrem Votum vom 21. Oktober 2021 wird Bezug genommen.

 

3. Darüber hinaus merkt der Senat an, dass im Gegensatz zu Geschwindigkeitsüberschreitungen bei Verkehrsordnungswidrigkeiten nach § 4 Abs. 1 StVO das Ausmaß der Abstandsunterschreitung nicht in den Tenor aufzunehmen ist. Es ergibt sich vielmehr zweifelsfrei aus der - in den angewendeten Vorschriften anzugebenden - Nummer 12.6.3 BKatV (vgl. OLG Koblenz, Beschl. 3 OWi 6 SsRs 298/20 v. 18.09.2020; 2 OWi 6 SsBs 98/17 v. 03.01.2018; 2 SsBs 70/10 v. 09.07.2010).